Hier lesen Sie Teil 3 der Kolumne des deutschen Journalisten Wolfgang Stephan vom 20. November über seine Zeit in Qatar, die Sie während der Fußball WM regelmäßig in Expat Aktuell finden können.
Endlich. Heute rollt der Ball. Am Nachmittag spielt Katar gegen Ecuador, ich werde im Al-Bayt-Stadion sein, alleine schon wegen der Show. Aber auch, um zu sehen wie die Locals, so nennen sich die Kataris mit dieser WM umgehen, die im Ausland umstritten ist, was den Menschen, denen wir auf den Straßen, in der Metro, im Bus oder in den Lokalen begegnen, aber völlig unbekannt ist. Sie würden es auch nicht verstehen.
Wohlgemerkt, ich spreche nicht von den Reichen des Landes. In unserer Wohngegend leben die normalen Menschen, die uns Fremden mit einer unglaublichen Hilfsbereitschaft begegnen. Demnächst mehr dazu.
Also, heute Eröffnung. Es geht im Wüsten-Emirat nämlich auch um Fußball. Dabei steht für viele Menschen in diesem Land die WM sinnbildlich für alles, was im Fußball falsch, vielleicht sogar in der Welt falsch läuft. Das ist zu viel des Guten. Der Fußball ist nicht der Auslöser der Krisen dieser Welt. Er spiegelt letztlich die Zustände in dieser kapitalistischen Welt, in der Profite mehr zählen als Menschenrechte. Grundsätzlich betrachtet.
Ja, die Menschenrechtssituation in Katar muss benannt werden, ebenso die Zustände auf den WM-Baustellen. Auch die Empörung über die skandalösen homophoben Äußerungen des katarischen WM-Botschafters ist notwendig.
Alles richtig.
Aber es gibt auch eine andere Sicht, wie die Worte von Otto Addo „Vor der Küste zur EU sterben jeden Tag Menschen, weil sie nicht aufgenommen werden. Und sie flüchten aus wirtschaftlichen Gründen, die wir mit verursacht haben“, sagte der Nationaltrainer Ghanas und gebürtige Hamburger, der an die Deutschen appellierte: Man sollte bei aller berechtigten Kritik auch vor der eigenen Haustür kehren. Was in der vergangenen Woche an öffentlicher Empörung, verbunden mit Boykottaufrufen zu hören und zu lesen war, mutet schon seltsam an. Die WM durch Wegschauen boykottieren, aber Katar als Handelspartner selbstverständlich hoffieren. Die WM verteufeln, aber sich gleichzeitig über das Flüssiggas aus Katar freuen. Oder über die im vergangenen Jahr um 75 Prozent gestiegenen Handelsbeziehungen. Das ist unredlich, denn die Geschichte zeigt, dass Katar allenfalls in einer Folge von weitaus schlimmeren Vergaben steht.
Die WM 2018 in Russland. In einem Land, dessen Präsident Wladimir Putin 2015 die Krim annektiert hatte. Ein Verstoß gegen das Völkerrecht.
Davor 2014 Brasilien. Eine WM, die von der brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff eröffnet wurde, die schon bei der WM heftig wegen Korruptionsvorwürfen in der Kritik stand und zwei Jahre später vom brasilianischen Senat ihres Amtes enthoben wurde.
2010 Südafrika: Eine WM in einem Land, in dem die Kriminalitätsstatistik damals 50 Morde, 56 versuchte Morde, 150 Vergewaltigungen, 535 bewaffnete Raubüberfälle auswies – am Tag. Mit täglich 50 Morden war Südafrika das mörderischste Pflaster der Welt – und wir haben eine schöne WM gefeiert.
Waka, Waka, Shakira haben wir noch alle in den Ohren.
Und es geht weiter. 2026 wird die WM unter anderem in den USA gespielt. Die Gefahr, dass ein Donald Trump das sportliche Weltereignis für seine Zwecke als US-Präsident nutzen kann, ist zweifelsfrei vorhanden. Furchtbar, nur daran zu denken.
Der schlimmste Sündenfall war 1978 in Argentinien, zwei Jahre nachdem die Militärs die demokratische Regierung zum Teufel gejagt hatten. Wer die Gnade der frühen Geburt erlebt hat, wird sich daran erinnern. Udo Jürgens und die Nationalkicker: „Buenos Dias Argentina, guten Tag du fremdes Land, komm wir reichen uns die Hand.“ Die Militärjunta war begeistert.
Die Moral dieser Geschichte: Kein Fußball-Fan muss sich in diesen Tagen wegen seiner WM-Begeisterung schämen. Hinschauen ist besser als wegschauen. Das gilt in Katar auch für den Fußball