Vieles ist passiert in Doha! Heute können Sie zusammengefasst die Kolumne des deutschen Journalisten Wolfgang Stephan von drei Tagen lesen – um das Schicksalsspiel der Deutschen herum. – Doha- und Mannschafts-Impressions!

Schicksalsspiel gegen Spanien

Es ist ein Schicksalsspiel des deutschen Fußballs. Am Sonntagabend  muss die Nationalmannschaft beweisen, dass sie doch mit den Großen dieser Welt mithalten kann. Nur ein Sieg gegen Spanien hält die Tür zum Achtelfinale weit offen. „Wir haben keinen Schuss mehr frei“, sagt Bundestrainer Hansi Flick.

„Wir sind in einer Scheiß-Situation und die Spanier kommen mit einem 7:0 im Rücken ins Stadion, aber das ist auch eine Chance für uns, die Stimmung zu drehen“ – das ist die optimistische Sichtweise, die Julian Brandt gestern im Medienzentrum verbreitete. Er ist sich sicher, dass die Mannschaft mit dem Druck umgehen könne und nannte das Beispiel von der EM 2021, als das Auftaktspiel gegen Frankreich verloren wurde. Brandt: „Dann liegen wir gegen Portugal hinten und gewinnen 4:2.“

Brandt und Kai Havertz und nicht einer aus dem Führungszirkel der Mannschaft mit Manuel Neuer, Joshua Kimmich, Ilkay Gündogan, Antonio Rüdiger oder Thomas Müller bestritten am Freitag die Pressekonferenz im Mannschaftshotel – durchweg mit ehrlich klingenden Sätzen.

Das Duo berichtete von einer intensiven Mannschaftssitzung, die sehr konstruktiv gewesen sei. Einen möglichen Zwist wegen der öffentlichen Kritik von Ilkay Gündogan und Manuel Neuer gebe es nicht. Havertz wertete die Gündogan-Worte als konstruktiv. Havertz: „So eine Kritik tut der Mannschaft gut, deswegen ist auch niemand sauer.“ „In einem Team muss man nicht immer nett zueinander sein, so Havertz. Es gebe „gute Charaktere“ in der Mannschaft. Der Chelsea-Spieler: „Wir mögen es, direkt miteinander zu sprechen, uns ins Gesicht zu sagen, was falsch und was richtig war.“ „Wir sind alle mit dem Gefühl aus dem Besprechungsraum gegangen, dass wir das Spiel gewinnen“, sagte der gegen Japan nicht eingesetzte Brandt.

In dem Meeting sei vor allem das besprochen worden, was falsch gelaufen sei. Über die positiven Dinge sei kaum geredet worden, es gehe einfach darum, so Brandt, „das 1:0 zu verteidigen und dann halt unspektakulär zu gewinnen“.

Dass Deutschland vor zwei Jahren in Sevilla gegen die Spanier mit 6:0 verloren habe, spiele keine Rolle mehr, sagt Brandt: „Wir sind in einer anderen Situation, wir haben einen neuen Trainer, einen Umbruch eingeleitet und sind viel weiter, unabhängig, wie die letzten Ergebnisse waren.“

Dass der neue Trainer „zu nett“ sei, wie einige Kritiker glauben, ist für Havertz kein Thema. „Nettsein ist ein schönes Ding.“ Er müsse sich nicht anschreien lassen, er brauche eine klare Ansage und die gebe es von Hansi Flick.

Ob der Bundestrainer am Sonntagabend mit Leroy Sané rechnen kann, blieb noch offen. Wegen Knieproblemen hatte Sané das erste WM-Spiel gegen Japan verpasst. Ansonsten gab es im Teamquartier keinerlei Hinweise auf personelle und taktische Veränderungen, die es aber geben wird.

Dass Flick erneut mit Nico Schlotterbeck in der Innenverteidigung antreten wird, gilt als ausgeschlossen, Niklas Sülle dürfte neben Antonio Rüdiger agieren. Spannend sind die Besetzungen der Außenpositionen in der Abwehr: David Raum ist offensiv gut, aber mit defensiven Mängeln behaftet, was gegen das Barca-Duo Gavi und Torres verhängnisvoll werden kann. Christian Günter könnte die Alternative sein. Rechts wäre es Thilo Kehrer, es sei denn, Flick greift zum Notfall-Plan B und beordert Kimmich auf die von ihm wenig favorisierte Außenbahn. Der Notfall ist eingetreten.

In der Offensive ist einiges noch offen. In der Statistik des Japan-Spiels stehen 26 Torschüsse der Deutschen – das Tor fiel nach einem Elfmeter. Gut möglich, dass Hansi Flick einen treffsicheren Stürmer ins Team bringt – und das wäre dann Niclas Füllkrug.

Mit einem Sieg gegen Spanien hätte das Flick-Team die Stimmung gedreht, aber noch keine Garantie fürs Achtelfinale.

Selbst bei einem weiteren Sieg gegen Costa Rica wäre das nicht sicher. Wenn die Spanier am letzten Spieltag gegen Japan gewinnen, hätten sie genau wie Japan (wenn die auch gegen Costa Rica siegen) und Deutschland sechs Punkte und es käme zum Dreiervergleich, in dem die Tordifferenz den Ausschlag geben würde. Spanien hätte dann durch das 7:0 gegen Costa Rica die beste Ausgangslage, so dass auch die Höhe der Siege gegen Spanien und Costa Rica für die Deutschen bedeutsam sind.

 Ein Unwissender schreibt

Wer diese Kolumne am Montag liest, ist schlauer als der Autor. Was vermutlich nicht ungewöhnlich ist, in diesem Falle aber garantiert, denn beim Schreiben der Kolumne wusste ich noch nicht, wie das Spiel gegen Spanien am Sonntagabend ausgegangenen ist. Der Text musste vorher geschrieben werden, was an der späten Anstoßzeit liegt.
Schicksalsspiel hatte ich am Samstag getextet. Schicksal für den deutschen Fußball, denn wenn wir verloren haben, wird alles in Frage gestellt. Von Flick über Bierhoff bis zur Nachwuchsarbeit. Zu Recht. Zu den Großen des Fußballs gehören wir dann endgültig nicht mehr, was eine völlig neue Zeitrechnung seit 2006 wäre. Bis ins Halbfinale hatten wir es bei jeder WM geschafft. Bis auf 2018 in Moskau – und jetzt in Katar? Katar als der Inbegriff des Untergangs. Ich bleibe beim Konjunktiv, denn so weit sind wir noch nicht, jedenfalls jetzt nicht am Sonntagnachmittag um 16 Uhr. „Optimismus ist auch eine Entscheidung“ – ich folge dem Slogan eines guten Freundes und gehe davon aus, dass mir der bitterste Turn bei einer WM erspart bleibt.
Das wäre das Spiel am Donnerstag gegen Costa Rica, wenn wir gegen Spanien verloren hätten. Ein Sinnlos-Spiel.  Wieder um  22 Uhr katarische Zeit. Vermutlich hat die FIFA schon im Vorfeld geahnt, dass die Deutschen nicht gut Freund sind. Also wurden zwei Gruppenspiele weit außerhalb nach Al Khor gelegt, eine Autostunde von Doha entfernt.  Spielbeginn 22 Uhr Katar-Zeit, Ende kurz vor Mitternacht, dann Pressekonferenz, Bus suchen, Heimfahrt ins Medienzentrum, Taxi-Fahrt nach Hause. Geschätzte Ankunft: 4 Uhr am Morgen.
Bitte: Kein Mitleid, uns geht es im sommerlichen Doha verdammt gut. Wenn da nicht das Damoklesschwert über dem gestrigen Abend gewesen wäre. Ich mag nicht daran denken, wir am Donnerstag Zeuge eines WM-Spiels werden, in dem es nur noch um den Abgesang des deutschen Fußballs geht. Ich entscheide mich für den Optimismus, auch wenn ich am Montag bei Ihnen ganz blöd dastehen könnte. Wir gewinnen gegen die Spanier. Schreibt der Fußball-Reporter, der möglicherweise keine Ahnung hat. Und dann von der Katarstrophe berichten muss.

Aus der Gruft geklettert

Na also: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Endlich sahen wir den Hansi Flick, den wir aus seinen Zeiten als Co-Trainer von Jogi Löw und von den Bayern kennen. Ein entspannter, freundlicher, empathischer Typ, der um kurz vor Mitternacht vor die internationale Presse in Al Khor trat und am Ende sogar scherzte. Was er mit Louis Enrique nach dem Spiel in freundschaftlicher Umarmung zu bereden hatte? „Das sagen wir Euch zu gegebener Zeit später“, sagte Flick mit einem vielsagenden Lächeln. Es klang, als ob sie sich zu einem Wiedersehen verabredet hätten. Im Endspiel?

„Unter den Gesetzen der Fußball-Weltmeisterschaft gibt es allen voran einen bewährten Klassiker: Gib Deutschland niemals auf“, sagte der Kollege von „La Repubblica“ aus Italien neben mir in der Pressekonferenz. Ob ich auch an den Titel glaube?

Aus norddeutsch geerdeter Sicht eher nicht. Vorsichtig ausgedrückt.

Apropos, gut 8.000 Journalisten berichten von dieser WM, darunter 150 Zeitungs- und Agentur-Journalisten aus Deutschland. Die Atmosphäre ist freundlich, geschäftsmäßig, viele kenne ich schon lange, wir schätzen uns. Sport-Journalisten sind eine besondere Spezies, meist Einzelgänger und nicht auf Smalltalk programmiert. Besser schreiben als reden.

Später am Abend sitzen neben mir auf der Pressetribüne ein amerikanischer Kollege aus Washington und ein englischer Kollege von „The Times“, nett, höflich. Ob ich ihm etwas über einen „Fulkrug“ sagen könnte, den kannte er bisher nicht, fragte der Engländer.  Bremen kannte er aber auch nicht. „Goalgetter“, antwortete ich. „Oh, great“, sagte der Kollege, wohl ahnend, dass da etwas Großartiges geschehen könnte.

In den internationalen Pressestimmen fand ich gestern in „The Times“: „Niclas Füllkrug, der Killer mit der Zahnlücke, holt Deutschland aus einem tiefen Loch in Katar.“

Der Amerikaner schreibt in der Washington Post: „Mit einem großen ‚Uff!‘ aus unerwarteter Quelle kurz vor Torschluss hat Deutschland seine Chancen vergrößert auf etwas, das seltener als selten ist in seiner hochdekorierten WM-Geschichte. Es kann noch immer aus der Gruft klettern, kurz bevor der Deckel schließt.“

Ich hätte es nicht besser ausdrücken können.