Wolfgang Stephan ist Journalist und Buch-Autor. Er war bis Ende 2021 Chefredakteur der TAGEBLATT-Gruppe in Stade.

Der mit vier Journalistenpreisen dekorierte Vollblut-Journalist arbeitet als freier Autor, unter anderem als Fußball-Reporter bei der Nationalmannschaft und als Experte für die Luftfahrt.

Wolfgang Stephan lebt abwechselnd im Alten Land bei Hamburg und in Andalusien.

Vor kurzem besuchte er die VAE. Bei diesem Besuch traf Expat Aktuell den erfahrenen Journalisten zu einem Gespräch.

David McAllister, der CDU-Politiker aus Niedersachsen ist seit 2014 Abgeordneter im Europäischen Parlament und leitet seit 2017 den Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten. Außerdem ist er Vizepräsident der Europäischen Volkspartei und der Internationalen Demokratischen Union.

 „Es ist eine ganz dunkle Stunde für Europa“, sagte David McAllister nach der Sondersitzung des EU-Parlaments letzte Woche.
 „Ich bewundere den Mut der ukrainischen Menschen, sich dieser russischen Übermacht zu stellen“

Das Bild  aus dem Büro McAllister zeigt David McAllister im Gespräch mit ukrainischen Soldaten beim Besuch Ende Januar in Mariupol in der Ost Ukraine. „Die Menschen haben uns hier eindrucksvoll geschildert, dass sie schon seit 2014 unter kriegsähnlichen Bedingungen leiden.“ 

Wolfgang Stephan interviewte David McAllister unterwegs in der Bahn nach Brüssel.

Herr McAllister hätten Sie es noch vor zehn Tagen für möglich gehalten, dass Putin einen Angriffskrieg starten wird?

McAllister: Die warnenden Hinweise von amerikanischen und britischen Nachrichtendiensten lagen vor, aber bis zum Schluss haben viele gehofft, dass diese kriegerische Invasion nicht stattfinden wird. Die Verantwortlichen sitzen im Kreml. Das Putin Regime ist unberechenbar.

War es naiv an die Diplomatie mit Putin zu glauben?
Diplomatie ist immer geboten. Es gab eine ernste Gesprächsbereitschaft auf russische Belange einzugehen. Der Westen hat in den vergangenen Monaten nichts unversucht gelassen, um auf diplomatischem Wege eine friedliche Lösung zu finden. Jetzt weiß die Welt, dass Herr Putin nie wirklich daran interessiert war. Der russische Präsident hat diese militärische Aggression von langer Hand vorbereitet. Es ist der schwerwiegendste Bruch des Völkerrechts in Europa seit 1945 und eine ganz dunkle Stunde für uns alle. 

Vor gut vier Wochen haben Sie als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses festgestellt, dass die EU für weitere Diplomatie mit Putin stehe und gleichzeitig deutlich gemacht, dass ein Angriff auf die Ukraine massive wirtschaftliche Folgen für Russland hätte. War die Politik der Diplomatie gegenüber Putin falsch und können Sie sich erklären, warum Putin sich nicht beeinflussen ließ?
Diplomatie und glaubwürdige Abschreckung widersprechen sich nicht. Sie gehören vielmehr zusammen. Wir waren immer bereit, mit Moskau über begründete Sicherheitsfragen zu verhandeln, jedoch nicht auf Kosten unserer Freiheit und Souveränität. Die Unabhängigkeit und die territoriale Integrität aller Staaten sind stets zu respektieren. Gewalt und Zwang anzuwenden, darf im 21. Jahrhundert keinen Platz haben.

War die westliche Strategie falsch, auf das Angebot Russlands über eine Neuordnung der Sicherheitsordnung in Europa zu reden, nicht einzugehen?
Der politische Westen hat konkrete Angebote gemacht, in den Dialog über Rüstungskontrolle, Abrüstung und mehr Transparenz bei militärischen Manövern einzutreten. Herr Putin stellt aber die gesamte europäische Friedens- und Sicherheitsarchitektur in Frage. Jedes Land hat das Recht souverän und eigenständig zu bestimmen, wie es sich außenpolitisch positioniert und welchen Bündnissen es beitritt.

Das heißt: Es war richtig, über eine mögliche NATO-Mitgliedschaft der Ukraine nicht mit Putin zu verhandeln?
Die Freiheit außenpolitische Entscheidungen souverän zu treffen, gilt für die Ukraine wie für jedes andere Land. Dafür braucht es nicht die „Genehmigung“ des Kremls. Eine mögliche NATO-Mitgliedschaft stand doch gar nicht an. Herr Putin hat einen Vorwand kreiert, um skrupellos einen brutalen und menschenverachtenden Krieg zu beginnen.

Wie groß schätzen Sie aktuell die Gefahr für die EU-Mitgliedsstaaten ein?
Die Lage ist sehr ernst. Die beiden größten Flächenländer Europas befinden sich im Kriegszustand. Es gibt einen russischen Präsidenten, der sich an gemeinsam vereinbarte Regeln in Europa nicht mehr hält und verbrecherische Großmachtphantasien hat. Umso wichtiger ist jetzt, dass wir zusammenstehen und deutlich machen, dass wir uns als NATO-Bündnispartner gemeinsam verteidigen. Unsere Entschlossenheit und Geschlossenheit ist unsere Stärke.

Halten Sie es für möglich, dass Putin auch die baltischen Staaten, Estland, Litauen und Lettland, angreifen wird, was eine offene Kriegserklärung an den Westen wäre?
Die baltischen Staaten sind Mitglied der NATO. Ein russischer Angriff würde den Bündnisfall auslösen. Der russischen Führung sollte sich sehr wohl bewusst sein, welche verheerenden Konsequenzen das hätte. 

Was kann der Westen außer den beschlossenen Maßnahmen jetzt noch tun, um den Druck auf Putin zu erhöhen?
Die EU hat in den letzten Tage Maßnahmen ergriffen, die es so noch nie gegeben hat. Dazu gehören weitreichende Sanktionen gegen die russische Wirtschaft, etwa durch den Ausschluss russischer Banken vom internationalen Zahlungssystem SWIFT. Zusätzlich hat die EU einen großen Teil der Finanzreserven der russischen Zentralbank eingefroren. Der Kreml wird einen hohen Preis zahlen müssen. Es geht jetzt auch darum, die Ukraine politisch, finanziell, wirtschaftlich und militärisch zu unterstützen. In einem Eilverfahren hat die EU in der vergangenen Woche ein umfangreiches wirtschaftliches Unterstützungspaket im Wert von 1,2 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Die EU wird nun militärische und nicht-militärische Güter im Wert von einer halben Milliarde Euro bereitstellen. Wir stehen der Ukraine und ihren Menschen in dieser dramatischen Lage fest zur Seite. Weitere politische, finanzielle und humanitäre Hilfe ist bereits angekündigt. So gilt es, die Soforthilfe für ukrainische Flüchtlinge unbürokratisch zu organisieren. Der EU-Katastrophenschutz ist aktiviert. Generell gibt es eine große Solidarität mit den Menschen in der Ukraine. Die zahlreichen Friedensproteste und Hilfsaktionen überall in Europa sind beeindruckend.

Gibt es Erkenntnisse, was Putin mit der Invasion in der Ukraine bezweckt?
Was genau Putin will, wissen wir nicht. Aber wir wissen, dass Putin in der jungen Demokratie in der Ukraine auch eine Gefahr für sein kleptokratisches Regime sieht. Es ist die Attraktivität von Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung, die dem Kreml, dem Sicherheits- und Geheimdienstapparat, den Oligarchen und anderen Profiteuren Angst macht.

Der Frieden in Europa ist Vergangenheit, leben wir ab jetzt in einer Welt, in der militärische Logik politisches Handeln bestimmt?
Die Ereignisse sind in jeglicher Hinsicht eine historische Zäsur. Die gemeinsame europäische Sicherheits- und Friedensarchitektur, die wir über Jahrzehnte zusammen mit Moskau aufgebaut haben und die sogar in den kältesten Zeiten des Kalten Krieges gehalten hat, ist brutal verletzt worden. Das wird erhebliche Veränderungen zur Folge haben. Was wir gemeinsam in der OSZE, in der Schlussakte von Helsinki, der Charta von Paris, in der NATO-Russland Schlussakte und in vielen weiteren Dokumenten vereinbart haben, war der richtige Weg.  

Die Frage war auch, ob militärisches Denken die Politik in Zukunft stärker bestimmen wird?
Für uns Europäer wird immer deutlicher, dass wir selbst mehr für unsere eigene Sicherheit und Verteidigung leisten müssen. Wir können uns nicht immer auf die uneingeschränkte Unterstützung der Vereinigten Staaten verlassen, siehe Herrn Trump. Es braucht in der Europäischen Union einen stärkeren und echten politischen Willen aller Mitgliedstaaten, die Kräfte zu bündeln. Ebenso geboten sind massive Investitionen für zusätzliche Ausrüstung und operative Fähigkeiten. Beides muss in enger Abstimmung mit der NATO deutlich besser werden. Insofern können wir davon ausgehen, dass sicherheits- und verteidigungspolitische Erwägungen künftig eine größere Rolle spielen werden und müssen.

Ein Autokrat verändert die Nachkriegsordnung in Europa.  Was ist für Sie die wichtigste Schlussfolgerung der EU in der grundsätzlichen Haltung zu Russland?
Das Putin-Regime hat eine rote Linie überquert und deshalb muss es politisch, wirtschaftlich und finanziell isoliert werden. Entscheidend ist, dass wir den Wandel in der europäischen Energiepolitik schneller vorantreiben. Es gilt, die Abhängigkeit von russischem Gas, Öl und Kohle zu verringern. Putin darf nicht länger in der Lage sein, Energie als politische Waffe gegenüber dem Westen einzusetzen. Auch in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik müssen wir uns strategisch besser aufstellen. So dränge ich darauf, dass die 27 EU Staats- und Regierungschefs Ende März in Paris den neuen Strategischen Kompass beschließen. Das ist der Fahrplan zu einer Europäischen Verteidigungsunion.

Am Dienstag tagte das EU-Parlament in einer Sondersitzung in Brüssel. Was ist das wichtigste Ergebnis?
In einer gemeinsamen Entschließung untermauern wir sehr deutlich unsere Positionen und stellen Forderungen an die Kommission und die Mitgliedstaaten auf. Aus der Fülle von Einzelvorschlägen möchte ich hervorheben, dass die europäischen Lizenzen für russische Propaganda-Medien überall in der EU entzogen werden. Es ist unerträglich, dass Sender wie „Russia Today“ mit absurden und falschen Behauptungen Propaganda für Putin machen können. Diese schädlichen Desinformationen in Europa zu verbreiten, muss endlich beendet werden.

Aber macht der Westen nicht genau das, was wir Putin vorwerfen, nämlich unbequeme Medien zu verbieten?
Die Pressefreiheit ist ein hohes Gut. Medienfreiheit bedeutet aber nicht die staatlich gesteuerte Verbreitung von infamer Propaganda eines Autokraten wie Putin, der für den Tod von unschuldigen Menschen in einem unprovozierten und ungerechtfertigten Krieg verantwortlich ist.  Die Ereignisse in der Ukraine gehen mir auch deshalb sehr ans Herz, weil ich mehrmals dort war, zuletzt vor vier Wochen mit einer kleinen Delegation von EU-Abgeordneten. Die Menschen in der Ostukraine in Mariupol haben uns bewegend geschildert, wie sie schon seit 2014 unter kriegsähnlichen Bedingungen leiden. Der Mut der ukrainischen Menschen, sich in diesen Tagen dieser russischen Übermacht zu stellen, verdient Hochachtung. Hier kämpft eine ganze Nation für Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung.