Heute berichtet der deutsche Journalist Wolfgang Stephan wieder über Erlebnisse am Rande der WM in Qatar – über andere Nationalitäten und über „Zufall“.
Raritäten: Corona und Alkohol
Zwei wichtige Dinge in dieser Welt gibt es nicht in Katar: Corona und Alkohol. Jedenfalls nicht vordergründig. Alkohol ist verpönt, Corona irgendwie auch. Noch bis Anfang Oktober galten im Emirat strenge Corona-Regeln mit Maskenpflicht und nachgewiesenen Impfungen als Eintrittskarte ins Leben. Schwierig bei einer WM. Also wurde die Maskenpflicht abgeschafft, WM-Besucher mussten auch keinen Test mehr bei der Einreise vorweisen. Nach jetzt zweieinhalb Wochen WM liegt die Inzidenz in Katar bei 158, was aber nur ein Schätzwert sein kann, denn getestet wird nicht. Im öffentlichen Leben spielt Corona keine Rolle mehr, in der Metro, in den Fan-Zonen oder in den Stadien drängen sich die Einheimischen und Fans. Wie im normalen Leben vor der Pandemie.
An einem Ort allerdings ist Corona sogar begehrt: „Coronita Cerveza“, das mexikanische Bier, fließt in Strömen in der „Champions-Sportbar“. Ein Hort der Freude, denn Alkohol ist im Emirat kaum zu bekommen, was sich bei den Straßenfeten der Engländer durchaus positiv auswirkt. Doch im „Champions“ im Marriott-Hotel an der Westbay darf jeder trinken, was auch reichlich genutzt wird. 0,25 Liter Bier kosten umgerechnet gut 20 Euro, was niemand sonderlich zu beeindrucken scheint. Das Lokal mit TV-Bildschirmen an allen Wänden ist jeden Abend voll, wie viele der Besucher. Am Dienstagabend ergattere ich gerade noch einen Platz in zweiter Reihe an der Theke. Portugal gegen Schweiz. Viele Afrikaner feiern ihren Sieg gegen Spanien ausgiebig. Vor mir sitzen zwei junge Marokkanerinnen, allenfalls um die 20, die eine eingehüllt in ihre Nationalfahne, die andere im Messi-Shirt ohne Hose. Fröhlich ohne Ende. Vorsichtig kommen wir ins Gespräch. Ich glaubte Mitleid in ihren Gesichtern zu entdecken, als ich mich als Deutscher vorstellte.
Als ihr Bier sich dem Ende neigt, wird Nachschub geholt. Lady Messi kommt mit zwei Guinness und zwei Corona zurück. Irritation meinerseits. Sollte ich mich von zwei kleinen Marokkanerinnen aushalten lassen? Aber wieso vier Bier, wir sind doch nur zu dritt? Die Biere landeten auf dem Tisch vor ihnen, mich beachtete niemand mehr. Irgendwann fragte ich mit Blick auf die vier Bier: Ob den ihre Kerle noch kommen? Wieso, antwortete Lady Messi: First half, second half. Erste Halbzeit, zweite Halbzeit. Cheers.
Aristoteles
Aristoteles Definition von Zufall lautet: Wenn im Bereich der Geschehnisse, die im strengen Sinn wegen etwas eintreten und deren Ursache außer ihnen liegt, etwas geschieht, das mit dem Ergebnis nicht in eine Deswegen-Beziehung zu bringen ist, dann nennen wir das „Zufall“.
Was Aristoteles meint: Seit zweieinhalb Wochen versuche ich mit Michi Kontakt aufzunehmen. Einer Deutschen, die als Tour-Guide in Katar arbeitet. Vergeblich. Irgendwas kommt immer dazwischen – bei ihr. Sie habe eine deutsche Fangruppe zu betreuen und das sei ziemlich viel Stress. Am Dienstag mein letzter Versuch. Wo bist Du? Antwort: „Im Beach-Club“. Oh, ich auch. Und wo? „Irgendwo an der West Bay“. Ich auch. Geschätzt gibt es in Doha 20 Beach Clubs mit 1 000 Liegen. Wie heißt der Club? „Keine Ahnung, ich bin erstmals hier, sende dir ein Foto“. Sie auf der Liege am Strand. Mich trifft der Schlag. Ich entdecke mich. Michi liegt zwei Meter von mir entfernt. Hallo Aristoteles.
Am Mittwoch sind wir unterwegs zu einer Farm mit Falken, dann zum Kamel-Rennen. Aber viel wichtiger ist das, was Michi erzählt. Eine waschechte Bayerin, die einst dem tristen Winter entfliehen und einen Kumpel in Doha besuchen wollte. „Ich habe mich vom ersten Tag an verliebt – nicht in den Kumpel, aber in Katar.“ Weil die Tochter aus dem Haus war und keine familiären Verpflichtungen bestanden, hatte sie das Abenteuer gewagt. Michi allein in Katar. Heute, neun Jahre später, ist sie eine der selbstbewusstesten Frauen, die ich je getroffen habe. Michi arbeitet als Hafen-Operation-Managerin, sorgt für den reibungslosen Ablauf der Ausflüge von Kreuzfahrt-Touristen. Jetzt, in Weltcup-Zeiten, boomt das Geschäft, eine Agentur hat sie für die Betreuung von hochkarätigen Gästen aus Deutschland gebucht. Die sind überrascht, wenn Michi poltert: Eine Schande, was in Deutschland über Katar berichtet werde. Lügen über Lügen. Alles werde ins Negative gedreht. Niemand rede mit Bauarbeitern, mit katarischen Frauen oder mit ihr.
Zwei TV-Interviews mit ihr wurden abgebrochen, weil sie über das Positive in Katar reden wollte. „Deutschland hat kein Recht, ein Land wie Katar mit Füßen zu treten“, so ihr Credo. Michi ist sauer, enttäuscht, empört. Ihre Frage nach dem Respekt vor einer anderen Kultur? Ich finde die mehr als berechtigt.