Hier ein aktueller Kommentar vom deutschen Journalisten Wolfgang Stephan zur Lage im deutschen Fußball nach der Entlassung von Hansi Flick.

Nach der peinlichen 1:4-Niederlage gegen Japan sprach nichts mehr für den Bundestrainer – DFB-Trio mit Völler übernimmt

Es war ein denkwürdiger Abend in Wolfsburg. Ein Spiel für die Geschichtsbücher, eine 1:4-Niederlage gegen Japan, die einen Tiefpunkt des deutschen Fußballs markiert. Noch im Stadion verdichteten sich gen Mitternacht die Vermutungen, dass die Ära von Hansi Flick vorbei sein wird. Am Sonntagnachmittag wurde er entlassen.

Um 16.40 Uhr am Nachmittag vermeldete der DFB die Freistellung des gesamten Trainerteams. „Die Gremien waren sich einig, dass die A-Nationalmannschaft der Männer nach den zuletzt enttäuschenden Ergebnissen einen neuen Impuls benötigt. Wir brauchen mit Blick auf die Europameisterschaft im eigenen Land eine Aufbruchstimmung und Zuversicht“, wurde DFB-Präsident Bernd Neuendorf zitiert. Mit Flick müssen seine Co-Trainer Marcus Sorg und Danny Röhl gehen. Interimsmäßig übernehmen Sportdirektor Rudi Völler und die Trainer der DFB-Nachwuchsmannschaften Sandro Wagner und Hannes Wolf die Mannschaft vor dem Spiel am 12. September gegen Frankreich.  Zeitnah soll ein Nachfolger für Flick gefunden werden.

Das Unheil für Flick deutete sich auf dem Rasen an. 290 Tage vor diesem Abend in Wolfsburg hatte die deutsche Mannschaft in Katar unglücklich mit 1:2 gegen Japan verloren.  Diesmal stand es am Ende 1:4, ein Ergebnis, dass niemand der Protagonisten beschönigen konnte und wollte. Dabei hatte Bundestrainer Hansi Flick nach den Niederlagen gegen Polen und Kolumbien einen Neuanfang im Herbst versprochen. Stattdessen präsentierte sich eine orientierungslose Mannschaft, die gegen die gedankenschnelleren Japaner keine Lösungen fand – und dies neun Monate vor der Heim-EM. Die Alarmzeichen hatten alle auf der Stirn, die sich nach dem Spiel überhaupt vor die Medien trauten. Normalerweise sind das in der Mixed-Zone in erster Linie die Spieler, die einen erfolgreichen Arbeitstag hinter sich hatten. Aber wer sollte an diesem Abend reden, ohne sich selbst zu belasten?
Es hat lange gedauert, bis sie Joshua Kimmich präsentierten. Der Münchner war Belastungszeuge des nicht aufgegangenen Matchplans von Hansi Flick, der im Sommer angekündigt hatte, dass die Zeit der Experimente vorbei sei, um dann mit Kimmich ein neues Experiment zu starten. Der Sechser lief nominell als Rechtsverteidiger auf, um bei Ballbesitz ins Mittelfeld als Achter zu rücken. Eine Mammutaufgabe für Kimmich, der beim Entstehen des ersten Gegentores auf seiner Seite nicht zur Stelle war und dessen Wirken in der Mitte im Verbund mit Ilkay Gündogan und Emre Can eher zur Orientierungslosigkeit im Aufbauspiel beigetragen hatte.

Neben dem nicht aufgegangenen Matchplan mit Kimmich in der Doppelrolle hatte Hansi Flick Nico Schlotterbeck als Linksverteidiger nominiert. Ein Fehlgriff. Vor dem 0:1, ließ sich der Dortmunder ausmanövrieren wie ein Jugendspieler, auch danach war Schlotterbecks linke Abwehrseite ein absoluter Schwachpunkt, dennoch durfte er eine Stunde auf dem Platz bleiben, um zu zeigen, was er nicht kann.
Dem 0:1 in der elften Minute folgte schnell das 1:1 durch den agilsten Feldspieler Leroy Sané, aber schon drei Minuten später führte Japan wieder, weil die Japaner bei ihrem Konter über Schlotterbecks Seite gedankenschneller als alle deutschen Abwehrspieler waren. Niklas Süle hob nach dem Tor von Ayase Ueda bedauernd die Hände, wie am Ende auch, als er beim 1:4 den in Düsseldorf kickenden Tanaka nicht am Kopfball gehindert hatte. Kurz zuvor hatte der für Schlotterbeck eingewechselte Robin Gosens über das Spielgerät geschlagen und den Japanern das 1:3 geschenkt. Zuvor hatte der beste deutsche Spieler, Torhüter Marc-André ter Stegen dreimal in höchster Not weiteres Unheil verhindert.
In seiner Spielanalyse war Joshua Kimmich klar: „Was wir in der zweiten Halbzeit gezeigt haben, war absolut zu wenig, da ist uns nichts eingefallen, wir hatten keine Ideen, keine Torchance herausgespielt.“ Die „Unsicherheit“ sei groß, das „Selbstvertrauen nicht da“. Und Kimmich sagte auch diesen bemerkenswerten Satz: „Am Ende des Tages müssen wir dem Trainer vertrauen, dass er die richtigen Entscheidungen trifft, dass er weiß, was richtig und gut für die Mannschaft ist.“ Dass die Mannschaft dem Trainer vertraut, hatte er damit nicht gesagt. Es war das erste Zeichen der Abkehr von Flick.
Während Kimmich redete, huschte ein durchgeschwitzter Rudi Völler in Richtung Kabine, um eine Stunde nach dem Spiel Klartext zu reden: „Brutal schlecht verteidigt“, sagte er, und: „Wir sind alle ein wenig unter Schock. 1:4 zu verlieren ist eine Blamage, das war auch in der Höhe verdient.“ Völler bat um Zeit: „Ich würde schon vorschlagen, sich nach so einer Niederlage ein bisschen zu sammeln und eine Nacht drüber zu schlafen.“ Die Nacht reichte, um die Entscheidung gegen Flick zu treffen, der nach dem Spiel in der Pressekonferenz fast trotzig klang. Auch wenn es „schwer nachvollziehbar“ sei, beteuerte er einmal mehr: „Wir bereiten die Mannschaft auf den Gegner gut vor, da gibt es nichts dran zu deuteln.“ Auf die Frage, wie es weitergehe, sagte Flick: „Das werden wir auch weiter so machen. Wir sind überzeugt von dem, was wir machen. Deswegen geht es auch so weiter für mich.“ Zuvor hatte er vor der Kamera bei RTL gesagt: „Ich bin der richtige Trainer.“ Mit dieser Meinung stand er dann aber alleine.