Der Urologe Prof. Dr. Jörg Schüller befasst sich hier mit einem Thema, das durchschnittlich jede 5. Frau betrifft.

 

Professor Dr. Jörg Schüller

Professor Dr. Jörg Schüller

 

Unter Harninkontinenz versteht man jeglichen unfreiwilligen Urinverlust, d.h. die Unfähigkeit den Urin sicher in der Harnblase zu speichern bzw. den Zeitpunkt der Blasenentleerung selbst zu bestimmen. Harninkontinenz ist eines der am häufigsten auftretenden Gesundheitsprobleme. Jede fünfte Frau im Alter zwischen 25 und 75 Jahren leidet zeitweilig oder dauerhaft an einer Harninkontinenz. Das Thema ist auch heute noch tabuisiert und meist aus Scham wenden sich nur ca. 30 % der Betroffenen an einen Arzt, so dass von einer viel höheren Dunkelziffer auszugehen ist. Harninkontinenz kann die Lebensqualität deutlich einschränken und zu einer psychischen Belastung, zu sozialer Isolation sowie zu Partnerschaftsproblemen führen und im Alter die Sturzgefahr steigern.

Man unterscheidet verschiedene Formen der Harninkontinenz, von denen die häufigsten die Belastungsinkontinenz (Stressinkontinenz), die Dranginkontinenz (Syndrom der überaktiven Blase) und eine Mischform aus beiden sind.

Der Grund des weitaus häufigeren Auftretens der Stressinkontinenz bei Frauen als bei Männern liegt darin, dass Frauen ein breiteres Becken und schwächere Beckenboden-Muskeln haben und mit der Durchtrittsstelle der Scheide durch den Beckenboden eine zusätzliche natürliche Schwachstelle besteht. Zudem ist der weibliche Beckenboden weitaus stärkeren Belastungen ausgesetzt.

Die Harnblase besteht im Wesentlichen aus Muskulatur. Ihr Verschluss- und Entleerungs-Mechanismus setzt sich aus einem dem Willen nicht unterliegendem innerem Blasen-Schließmuskel und der Blasenmuskulatur sowie einem willentlich aktivierbarem äußerem Schließmuskel zusammen. Letzterer ist in die Beckenbodenmuskulatur eingebettet, die zusammen mit dem Bandapparat den Beckenboden bildet. Der Beckenboden trägt die Becken- und Bauchorgane und hält sie in ihrer jeweiligen Position.

 

Anatomie der weiblichen Beckenorgane

Anatomie der weiblichen Beckenorgane

 

Bei Druckerhöhungen im Bauchraum und in der Blase muss der Beckenboden mit einer höheren Anspannung des Schließmuskels reflexartig gegenhalten, um einen Urinverlust zu verhindern. Störungen dieser Mechanismen können zu ungewolltem Urinverlust führen.

In aller Regel lassen sich die unterschiedlichen Inkontinenzformen durch ausführliche Anamneseerhebung und fachgerechte Diagnostik differenzieren, so dass für jede Frau die Chance einer erfolgreichen Behandlung besteht. Neben der Inkontinenzform bestimmen vor allem Art und Ausmaß der Beschwerden sowie die jeweilige Lebenssituation der Patientin die individuell passende Therapie.

Die Belastungsinkontinenz ist die mit 50% häufigste Form der weiblichen Harninkontinenz.
Die Bänder, die den Beckenboden halten, verlieren durch Schwangerschaft und Geburt, körperliche Belastungen, Übergewicht und hormonelle Veränderungen mit zunehmendem Alter an Elastizität, so dass der Beckenboden insgesamt geschwächt, die Harnröhre nicht mehr fest in ihrem Halteapparat verankert und der gesamte Blasenverschlussmechanismus gestört ist. Unter diesen Umständen übersteigt eine Druckerhöhung innerhalb des Bauchraumes durch Nießen, Husten, Lachen, Treppensteigen oder auch alltägliche körperliche Anstrengungen den Verschlussdruck der Harnröhre und es kommt zum ungewollten Urinabgang in Form von Tropfen, Spritzern oder im Schwall, ohne dass vorher ein Harndrang besteht.

 

Therapeutische Optionen bei Belastungsinkontinenz

Therapeutische Optionen bei Belastungsinkontinenz

 
Wie kann man die Belastungsinkontinenz behandeln?
Die Therapie richtet sich nach dem Schweregrad der Inkontinenz und kann konservativ und operativ erfolgen. Konservative Maßnahmen haben zum Ziel durch Verhaltensänderungen den Druck auf den Beckenboden zu verringern und durch Physiotherapie den Verschlussmechanismus der Harnröhre zu stärken bzw. die Harnröhre in ihrer Lage zu stabilisieren.
Zu den Verhaltensänderungen zählen Gewichtsabnahme bei Übergewicht und Regulierung einer Darmträgheit durch diätetische Maßnahmen. Schweres Tragen sollte auf ein Maximum von 10 kg beschränkt, anhaltender Hustens beseitigt werden.

Den Grundpfeiler der konservativen Behandlungsweisen stellt das Beckenbodentraining dar, durch das ein Gefühl für den eigenen Beckenboden entwickelt werden muss um die entsprechende Muskelgruppe konsequent trainieren zu können. Dies sollte gemeinsam mit einem ausgebildeten Physiotherapeuten erlernt werden. Die positiven Effekte der Übungen lassen sich durch Elektro- und Magnetstimulation oder Vibrationstraining verbessern. Durch Biofeedbacktraining lernt man die jeweiligen Muskeln mithilfe visueller und akustischer Signale bewusst wahrzunehmen. Eine Form des Biofeedbacktrainings ist das Tragen tamponförmiger Vaginalkonen mit zunehmenden Gewichten, deren Herausgleiten man durch Beckenbodenkontraktionen verhindern kann.
Durch diese Maßnahmen lassen sich bei leichten Formen der Stressinkontinenz gute Ergebnisse erzielen.

Medikamentös kann die Aktivität des äußeren Schließmuskels durch das Medikament Duolexetin, ein Antidressivum, gestärkt werden. Aufgrund starker Nebenwirkungen kommt es allerdings oft zu Therapieabbrüchen.
Ein mit der Menopause einhergehender Östrogenmangel führt u.a. zu lokaler Schwächung des Beckenbodenbindegewebes, so dass eine lokale Östrogentherapie mit Scheidencremes oder Zäpfchen bei einer Belastungsinkontinenz sinnvoll ist.

Alle konservativen Maßnahmen wirken allerdings nur so lange, wie sie auch durchgeführt werden; nach ihrem Absetzen verschlechtert sich die Inkontinenz wieder.
Operationen bei Belastungsinkontinenz sollten erst nach Ausschöpfen der konservativen Maßnahmen und weiterhin bestehender starker Beeinträchtigung der Patientin erfolgen.
In den 90er Jahren wurde die offene Inkontinenzoperation mit Anhebung des Blasenhalses durch die Einführung der Schlingenimplantation abgelöst.

Dabei wird ein grobmaschiges Kunststoffbändchen um die mittlere Harnröhre platziert und über der Symphyse oder die Beugefalten der Leisten spannungsfrei ausgeleitet. In das Maschenwerk des Bändchens wächst Bindegewebe ein und gewährt somit der Harnröhre neuen Halt. Unter steigendem Druck im Bauchraum knickt die Harnröhre oberhalb des Bändchens ab, was den unfreiwilligen Urinabgang verhindert. Bei minimaler Invasivität, Durchführbarkeit in Lokalanästhesie, kurzer postoperativer Erholung und hoher Erfolgsrate von 90% über Jahre stellen die Schlingen heute den Goldstandard in der operativen Therapie der unkomplizierten Belastungsinkontinenz dar. Trotzdem können auch hier Komplikationen auftreten, über die die Patientin vor der Operation aufgeklärt werden muss.

In ausgewählten Fällen, vor allem nach vorausgegangener Schlingenoperation, lässt sich durch Unterspritzung sog. Bulking Agents (Bulkamid®, Kollagen) unter die Harnröhrenschleimhaut eine Kompression der Harnröhre erreichen

Mit einigen Bulking Agents lassen sich nur kurzzeitige Erfolge erzielen (Kollagen), so dass oft Wiederholungsinjektionen notwendig sind; andere wiederum (Polyacrylamidgel, Bulkamid®) zeigen andauernde Effekte, so dass sie sowohl zur primären als auch sekundären Therapie der Belastungsinkontinenz eingesetzt werden können. Die Injektion von körpereigenen Stammzellen könnte in Zukunft eine weitere Alternative bieten.

Meist nach mehrfachen Inkontinenzoperationen kann als Ultima ratio ein „künstlicher Schließmuskel“ eingesetzt werden; hierbei wird um die Harnröhre eine mit Flüssigkeit gefüllte Kunststoffmanschette gelegt, die die Harnröhre zusammendrückt. Um die Miktion freizugeben, wird die Flüssigkeit über eine in der Schamlippe positionierte Pumpe in einen unsichtbaren kleinen Ballon im Bauchraum gepumpt; nach Beendigung der Miktion drückt der Ballon die Flüssigkeit von selbst wieder innerhalb weniger Minuten in die Manschette zurück und verschließt die Harnröhre.

 

Künstlicher Blasenschließmuskel

Künstlicher Blasenschließmuskel

 
Sollten Kontraindikationen jegliche Operationen verbieten oder trotz gezielter Beckenbodenrehabilitationen keine Kontinenz erzielt werden, kann man durch Einlage von Pessaren oder Tampons (Abb. 2 E) in Kombination mit östrogenhaltigen Cremes in die Scheide einen leichten mechanischen Druck auf die Harnröhre ausüben, den Blasenhals und die Gebärmutter anheben, was zur Kontinenz führt.

Auch kann man die Tampons zum situativen Einsatz (z.B. Sport) bei einer leichten Inkontinenz gezielt anwenden.

Harninkontinenz ist aufgrund erfolgsversprechender Behandlungsmöglichkeiten heute kein unabwendbares Schicksal; vielmehr lässt sich zumindest in Fällen einer Belastungsinkontinenz im Rahmen durch konservative und operative Maßnahmen in einem hohem Prozentsatz Kontinenz erzielen und ein hohes Maß an Lebensqualität wiedererlangen.

Wenn Sie Fragen zu diesem Thema haben wenden Sie sich bitte an Prof. Dr. med. Jörg Schüller in der Koster Clinic, Umm Suqeim 3, 26th street.
Bitte vereinbaren Sie einen Termin unter +971 4 388 1887