Seit der Abreise der deutschen Mannschaft hat der deutsche Journalist Wolfgang Stephan viel mehr Zeit, über Interessantes aus Qatar zu berichten, denn er bleibt natürlich bis zum Ende der WM vor Ort, da eine WM nichts damit zu tun hat, ob die Deutschen noch spielen oder nicht.

Überleben im Souq

Schön, dass Du jetzt mehr über Land und Leute schreiben kannst, höre ich aus der Heimat. Was auf den ersten Blick nicht so einfach ist, denn Kataris hatte ich bisher noch nicht getroffen. „Wir glauben, dass diese Weltmeisterschaft ein Moment der Einheit und Integrität wird“, hatte Fatma Al Nuaimi, die Kommunikationschefin des katarischen „Supreme Committees“, zu Beginn der Spiele gesagt. Was dies bedeutet, fühle ich bei meinen Besuchen im Souq Wagif, dem Schmelztiegel der Kulturen und Treff der Fans aus aller Welt. Mitten in Doha – ein Ort der arabischen Tradition –  touristisch garniert, aber schon noch so, dass der Orient spürbar wird. Ich liebe die Atmosphäre, feilsche um eine weitere Lampe und freue mich, wenn der Händler mir einen Nachlass gibt und mich zum Arabic Coffee einlädt, der mit grünem Kardamom angereichert wird. Was kein Erlebnis ist. „Healthy“, sagt mein Dealer freundlich und deutet auf sein Herz. Ich bin ziemlich sicher, dass ich mir nach den zwei Arabic Coffee die kardiologische Vorsorge im nächsten Jahr sparen kann. Und freue mich, dass ich auch das überlebe. Draußen wurde derweil getrommelt, die Marokkaner halten die afrikanische Fahne hoch. „Wir sind sehr stolz, dass wir auch Gastgeber für unsere arabischen Freunde sein dürfen“, hatte mir Alya gesagt, die ich im Medienzentrum traf, bekleidet mit einer Abaya, dem bodenlangen schwarzen Kleid, das die meisten Frauen in Katar tragen. Weil sie mich anspricht (umgekehrt ist das eher nicht erwünscht), kommen wir ins Gespräch, am Ende steht sie sogar für ein Interview zur Verfügung, was ich in den nächsten Tagen schreiben werde.

Die arabischen Freunde? Für Katar ist das schon jetzt ein Erfolg, denn lange Zeit knirschte es im Verhältnis der Kataris zu ihren Nachbarn, besonders zum konservativen Saudi-Arabien, auf dessen Betreiben noch 2017 ein Boykott Katars durch die Golf-Anliegerstaaten beschlossen wurde, der aber scheiterte. 2021 beendeten die Saudis auf Vermittlung Kuwaits ihr Embargo.  Dass die Saudis in Scharen zur WM eingereist und in Katar gefeiert wurden, gehört geopolitisch zu den herausragenden Merkmalen des Turniers.
Mitten im Trubel der feiernden Marokkaner treffe ich am Abend einen Kollegen aus Berlin. „Man muss schon aufpassen, diese Stimmung nicht gut zu finden“, sagte er. Ich bin fassungslos. Ich passe nicht auf.

Das Vorbild

Ich lernte ihn einst in Südafrika kennen. Damals, 2010, er war 72 Jahre alt und agil wie ein Fünfzigjähriger. Hartmut Scherzer. Sein Auftreten, seine Art, sein Wissen, seine Schreibe, sein Alter, seine Fitness – ich beschloss, ihn mir als journalistisches Vorbild zu nehmen. Vier Jahre später sind wir mehrmals gemeinsam durch Brasilien geflogen, es war immer das gleiche Ritual, ich fragte, Hartmut erzählte. Dabei ging es meist nicht um Fußball. Der Kollege hat alle drei Jahrhundert-Boxkämpfe von Muhammad Ali in New York, Kinshasa und Manila live miterlebt, war bei 33 Tour-de- France-Rennen dabei und hat von 21 Olympischen Spielen berichtet.  Eine Sportreporter-Legende, eine Lichtgestalt des deutschen Sportjournalismus. Es mag sich antiquiert anhören, wenn ich von einem der alten Garde schreibe. Aber er ist halt einer, dem es nie nur um Tore, Siege oder Rekorde ging, was in seinem Buch „Welt-Sport“ auf über 700 Seiten nachzulesen ist. Online ist so einer nicht zu gebrauchen, für ihn eine besondere Wertschätzung.

Scherzer schreibt Hintergründe, über Revolten, Aufstände, Rassismus, Apartheid. Seine Helden sind auch die Kämpfer gegen Krankheiten, wie Lance Armstrong, der des Dopings überführte Radsportler, der ihn wegen seines eisernen Überlebenskampfes gegen den Krebs fasziniert. „Dafür bewundere ich ihn“, schreibt Scherzer, der 1984 in Los Angeles Muhammad Ali zu Hause besuchen durfte, und einer der Ersten war, der spürte, dass mit Ali was nicht stimmte – Parkinson. „Den Zerfall des Champs zu erleben, gehört zu meinen erschütterndsten Erlebnissen.“

Eine Statistik fehlt bisher in dieser Aufzählung: Seine Fußball-Weltmeisterschaften. Hartmut absolviert gerade sein 16. Turnier. Seit 1962 in Chile ist er ununterbrochen dabei. Mit damals 15 deutschen Journalisten. In Katar waren es 150, in Brasilien 200, jetzt sind es nach dem Abflug der Deutschen noch etwa 30 deutsche Kollegen. Hartmut Scherzer bleibt auch bis zum Finale. Wir trafen uns vor ein paar Tagen im Medienzentrum. „Hartmut, Du bist ja auch noch da“, stellte ich freudig fest. Seine lapidare Antwort: „Warum nicht, das ist schließlich eine Weltmeisterschaft und keine Deutsche Meisterschaft“, sagte der Mann, der mit 84 Jahren immer noch mit wachem Blick auf der Pressetribüne sitzt. 84.

Das mit dem Vorbild überlege ich mir nochmal.